Risiko Kontaktsportart: Bitte nicht berühren
Fromme-NL, 11.06.2018
Ein völlig neues Haftungsszenario unter dem Sammelbegriff
„Kontaktsport“ droht, den europäischen Haftpflichtmarkt zu erreichen. Einige
Experten reden schon von einer neuen „Asbestwelle“. Die britische Rugby Union
hat Anfang des Jahres gefordert, die Sportler besser zu schützen und
andernfalls Rechtsstreitigkeiten angedroht. Der Chefmediziner der
internationalen Fußballspieler-Gewerkschaft FifPro, Vincent Gouttebarge, hat
insgesamt 576 frühere Fußball-, Eishockey- und Rugbyspieler untersucht und
festgestellt, dass die bei Kontaktsportarten unvermeidbaren
Gehirnerschütterungen zu „mentalen Spätfolgen“ führen.
Der doppelte Blackout des FC Liverpool-Torwarts Loris Karius
im Champions League-Finale war wohl auch auf eine Gehirnerschütterung
zurückzuführen, die er nur zwei Minuten vor seinem ersten Fehler erlitten hat,
als er von dem spanischen Abwehrspieler Sergio Ramos nach einem Eckball mit dem
Ellbogen am Kopf getroffen worden war. Das hat laut der behandelnden Ärzte zu
einer „visuell-räumlichen Dysfunktion“ geführt. Unvergessen auch die
Desorientierung des deutschen Nationalspielers Christoph Kramer im letzten
WM-Finale, der sich nach einem schweren Kopftreffer erst beim Schiedsrichter
erkundigen musste, ob es sich wirklich um das WM-Endspiel handele. Allein die Frage indiziert nach der
Definition der International Consensus Conference on Concussions in Sports
(ICCCS) „a Traumatic Brain Injury induced by Biomechanical Force“.
Alle Beteiligten suchen nach solventen Schuldnern, wenn es
später tatsächlich zu Krankheitsbildern wie Depressionen oder gar Demenz kommt.
In Frage kommen die Vereine, deren Verbände und deren Versicherer. Eine US-Class
Action von Fußballprofis gegen die Fifa ist jüngst nur wegen deren fehlender
Passivlegitimation als internationaler Verband und nicht wegen fehlender
Erfolgsaussichten abgewiesen worden. Bei Sportarten mit Schutzausrüstung
(Football, Eishockey) werden auch deren Hersteller in den Fokus geraten.
Haftungsgrund ist einerseits die unterlassene Aufklärung über die gefährlichen
Spätfolgen des Kontaktsports und andererseits das Fehlen eines wirksamen
Schutzes vor Kopfverletzungen. „Handeln auf eigene Gefahr“ soll bei den ja
meist sehr jungen Sportlern jedenfalls dann nicht vorliegen, wenn die
Verletzungs- und damit die Erkrankungsgefahren überproportional groß sind.
Ihren Ursprung haben diese Vorgänge in Untersuchungen der
University of California und des Cefn Coed Hospitals in Swansea. Diese haben
bei älteren Profis von Kontaktsportarten Hirndeformationen wie bei Boxern
festgestellt. Die Boston University hat bei 110 von 111 Gehirnen verstorbener
Footballspieler die degenerativ-neurologische Erkrankung CTE (Chronische
traumatische Enzephalitis) diagnostiziert. Und eine in The Lancet
veröffentlichte Langzeit-Studie der Washington University belegt, dass schon
eine einzige Gehirnerschütterung das Demenzrisiko um 17 Prozent erhöht. Bei
einer „Traumatic Brain Injury“ (TBI) steigt es sogar auf durchschnittlich 24
Prozent. Je jünger der Betroffene, desto höher das Risiko: bei 20-Jährigen
liegt der Risikofaktor bei 63 Prozent.
Die amerikanische Football-Liga NFL hat sich schon zur
Zahlung von rund 1 Mrd. Dollar (850,5 Mio. Euro) verpflichtet, die über die
nächsten 65 Jahre an frühere Spieler ausgekehrt werden soll. 100 Mio. Dollar
sind bereits geflossen. Ob dafür Deckung aus der Haftpflichtversicherung
besteht, wird gerade gerichtlich geklärt. Der Fragen gibt es viele, sie reichen
vom Zeitpunkt des Eintritts des Schadenfalls („Occurrence“) über dessen
Vorhersehbarkeit bis hin zur richtigen Allokation der Schäden. Die National
Hockey League (NHL) sieht sich mit vergleichbaren Forderungen konfrontiert.
Auch zahlreiche Profifußballer machen die vielen Kopfbälle, die sie während
ihrer Karriere vollzogen haben, für das erhöhte Risiko einer späteren
Demenzerkrankung verantwortlich.
Die Gefahr, zu erkranken, soll bei Kontaktsportlern um zwei
Drittel höher liegen als in der allgemeinen Bevölkerung. Aber über bloße
Vermutungen, dass die Gehirnerschütterungen und die Spätsymptome kausal
verknüpft sind, geht die Beweisführung bislang nicht hinaus. Um einen echten
Kausalitätsnachweis zu führen, müsste man die Gehirne der einzelnen betroffenen
Spieler direkt untersuchen, was aber aus naheliegenden Gründen erst post mortem
möglich ist und dann ist es zu spät. Einer der englischen Weltmeister von 1966,
George Cohen, 77, hat sein Hirn der Wissenschaft vermacht, damit nach seinem
Ableben die kausale Verknüpfung der Kopfbälle mit etwaigen Deformationen
bewiesen werden kann. Das prinzipielle Ergebnis steht ja nach den bisherigen
Forschungsergebnissen schon fest, kann aber den erforderlichen Einzelnachweis
nicht ersetzen. Und anders als bei immerhin drei Spielern der damaligen
Meistermannschaft, die an Alzheimer erkrankt sind, steht bei Cohen nicht einmal
fest, ob er überhaupt Krankheitsindikatoren aufweist. Immerhin hat die
US-National Soccer League ihre Regeln inzwischen so geändert, dass die Gefahr
von Gehirnerschütterungen vermindert wird und im US-Kinder- und Jugendfußball
dürfen angeblich nicht mehr als 7 Kopfbälle (pro Spiel und Spieler) ausgeführt
werden.
Anstellungsverträge oder Verbandsstatute im deutschen
Profisport beinhalten keine Klauseln, welche die Haftung für entsprechende
Spätfolgen solcher während der Karriere erlittenen Verletzungen ausschließen,
die Wirksamkeit solcher Ausschlussklauseln einmal unterstellt. Warnungen, die
die Sportler vor Eintritt in eine Berufssportlerkarriere auf deren Spätfolgen
hinweisen, sind unbekannt. Auch Akutmaßnahmen am Spielfeldrand sind eher selten
– auch Kramer (bis zu seiner Auswechslung) und Karius haben weitergespielt.
Insoweit bestehen beste Aussichten für eine spätere Haftung.
Vielleicht sollten die Vereine und Verbände doch über die
nicht unerheblichen Gesundheitsrisiken belehren, die mit Ruhm, Ehre und Geld
verbunden sind. Auch wenn man befürchten muss, dass niemand wirklich zuhört.
Wenn ein bis dahin völlig unbekannter US-Collegespieler nach dem Wechsel in die
Football-Profiliga in den ersten drei Jahren 7 Mio. Dollar garantiert bekommt –
pro Jahr versteht sich – dann dürfte das Warnpotential einer kleingedruckten
Vertragsklausel eher gering sein. Zum Schutz der Spieler und vor eigenen
Haftungsrisiken hat die NFL immerhin angeordnet, dass Spieler sich bei Verdacht
auf Gehirnerschütterungen sofort am Spielfeldrand von unabhängigen Ärzten
untersuchen lassen müssen und anlassbezogen vom Spiel auszuschließen sind.
Entsprechende Haftungsszenarien gehen weit über den Bereich
des Profisports hinaus. Die Problematik im Amateurbereich ist durchaus
vergleichbar. Hier sind nicht nur die Vereine betroffen; der Freizeit- und
Betriebssport steht ebenso im Fokus wie die Schulen. Bei allein 60.000 Sportvereinen
nur in Deutschland findet sich ein riesiges Haftungspotenzial. Es wird dann
nicht mehr – wie bisher – nur um die juristische Aufarbeitung von
Akutverletzungen gehen, sondern der Sport selbst und die ihm immanenten
gefährlichen Spätfolgen werden zum Thema werden. Ob hier die regelmäßigen
Haftungsausschlüsse in Vereinssatzungen wirksam sind, wäre im Einzelfall zu
überprüfen – ebenso wie kommerzielle Veranstalter darüber nachdenken müssen,
entsprechende Klauseln in ihren Verträge zu implementieren. Entsprechende
Reaktionen der Haftpflichtversicherer auf diese Risiken sind absehbar,
spätestens nach den ersten Haftungsfällen.