Rechtsstaat im Verhältnis
Ein Vorschlag der EU-Kommission aus
jüngerer Zeit zur Verteilung von EU-Geldern sieht vor, dass Kürzungen
vorgenommen werden können, wenn die Grundsätze der „Rule of Law“, also
Rechtsstaatsprinzipien, nicht eingehalten werden. Gegen Polen wurde ein
Verfahren eingeleitet, erstmals in der Geschichte der EU. Es ist zu hoffen,
dass nicht eines Tages auch Deutschland in das Visier der Rechtsstaats-Aktivisten
gerät; Anlass dazu bestünde nach den bei Polen angewandten Parametern durchaus.
Art. 187 der polnischen
Verfassung sieht ein Gremium für die Richterernennung vor, das „national
council of the judiciary“. Dieses Gremium hat 25 Mitglieder, von denen 15 aus
der Richterschaft stammen, während zehn Laienmitglieder hinzukommen, von denen
sechs vom Parlament ernannt werden, einer vom Präsidenten und drei von Amts
wegen. Umstritten ist, wie die 15 Richter besetzt werden. Bislang war es so,
dass diese Richter von der Richterschaft selbst in das Gremium entsandt werden
sollten. Kritikpunkt ist jetzt, dass die 15 Richter mit einer 3/5-Mehrheit vom
Parlament zu wählen sind. Wenn eine 3/5-Mehrheit nicht erreicht wird, reicht in
einer zweiten Wahlrunde eine einfache Mehrheit. Die EU sieht darin eine Verletzung
europäischer Rechtsstaats-Standards, weil eine Regierung, die sich auf eine
absolute Mehrheit stützen kann, jedenfalls im zweiten Wahlgang freie Hand bei
der Ernennung der 15 Richter für das Richterwahlgremium hat. Unter der
Berücksichtigung, dass von den anderen zehn Mitgliedern sechs Parlamentarier
sind, einer vom Präsidenten ernannt wird und drei Mitglieder von Amts wegen in
das Gremium hineinkommen, sieht man einen zu großen politischen Einfluss. Durch
den unmittelbaren Einfluss auf die Arbeit des Gremiums sei dieser von
vornherein zu „politisch“.
Die bekannte Venedig-Kommission hat sich in einem Beschluss vom 11. Dezember
2017 (CDL-AD(2017)031) diesen Bedenken angeschlossen und hat festgestellt, dass
das polnische Auswahlverfahren der Mitglieder der Wahlkommission dieses nicht
von einer Politisierung schützt. Der geringer gewordene Einfluss der Richter
(es gibt nach wie vor ein Vorschlagsrecht, dem das Parlament aber nicht folgen
muss), würde der Richterschaft unzureichendes Gewicht bei der Ernennung der
Mitglieder des Richterwahlausschusses garantieren und das sei zu bedauern (Nr.
26 des o.a. Beschlusses). Zugleich wird kritisiert, dass Art. 6 des
Entwurfsgesetzes bestimmt, dass das Mandat der Mitglieder des
Richterwahlausschusses endet, sobald ein neues Mitglied gewählt worden ist. Obwohl
damit der polnische Gesetzgeber einer
Forderung des Verfassungsgerichts selbst (Urteil vom 20. Juni 2017) folgt, weil
nur so erreicht werden kann, dass die Amtszeit der Mitglieder des
Richterwahlausschusses gleich lang ist, wird auch dieser Mechanismus
kritisiert, denn eine „Desynchronisierung“ sei von Vorteil, weil dadurch das „institutionelle
Gedächtnis“ des Ausschusses und auch seine Kontinuität gesichert würden. Im
Interesse des Pluralismus und der Unabhängigkeit des Gremiums sei es deshalb
nicht angebracht, die Mitglieder mit einem einzigen Wahlvorgang komplett
austauschen zu können.
Es ist schon erstaunlich, dass
ausgerechnet eine Stärkung der Rechte einer gewählten Volksvertretung Bedenken
gegen die Rechtsstattlichkeit des Verfahrens auslöst. Sieht es in Deutschland besser
aus? Werden bei uns überhaupt Richter in die Ernennung neuer Richter
eingebunden? Oder ist unser Verfahren
von vorne herein nur „politisiert“? Für Bundesrichter gilt Art. 95 Abs. 2 GG in
Verbindung mit dem Richterwahlgesetz (RiWG). Bundesrichter werden vom
Richterwahlausschuss nach Art. 95 Abs. 2 GG gewählt, die aus den für das
jeweilige Sachgebiet zuständigen Länderministern bestehen und einer gleichen
Anzahl von Mitgliedern, die vom Bundestag gewählt werden. Der zuständige Bundesminister
leitet die Sitzungen des Richterwahlausschusses und kann Vorschläge machen.
Auch die Mitglieder des Richterwahlausschusses können Bundesrichter zur
Ernennung vorschlagen. Es erfolgt dann eine Anhörung des jeweiligen
Präsidialrates des fraglichen Gerichtes, es wird die Personalakte des
Kandidaten vorgelegt und eine aktuelle zeitnahe Beurteilung inklusive einer
umfassenden Dokumentation über dessen berufliche Entwicklung. Der
Richterwahlausschuss prüft dann die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen
und entscheidet in geheimer Abstimmung mit einfacher Mehrheit der abgegebenen
Stimmen. Stimmt der zuständige Bundesminister zu, wird der Bundespräsident den
Kandidaten ernennen.
Bundesverfassungsrichter haben es
da fast einfacher. Nach Art. 94 Abs. 1 GG besteht das Bundesverfassungsgericht
aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern, Satz 1. Die Mitglieder des
Bundesverfassungsgerichtes werden „je zur Hälfte vom Bundestage und vom
Bundesrate gewählt“, Satz 2. Alles weitere bestimmt das Bundesverfassungsgerichtsgesetz
(BVerfGG). Danach besteht das BVerfG aus zwei Senaten zu je acht Richtern. Drei
Richter jedes Senates werden aus den Bundesrichtern ausgewählt. § 5
BVerfGG wiederholt Art. 94 Abs.1 Satz 2 GG, wonach die Richter jedes Senates je
zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt werden. Von den drei
Bundesrichtern soll einer von dem einen und zwei von dem anderen Wahlorgan
gewählt werden, von den übrigen Richtern drei von dem einen und zwei von dem
anderen. Das lässt gewisse Spielräume. § 6 BVerfGG bestimmt in Abs. 2,
dass der Bundestag durch einen 12köpfigen Wahlausschuss entscheidet. Ein
Wahlvorschlag bedarf zum Erfolg mindestens acht Stimmen der Mitglieder dieses
Wahlausschusses. Gem. § 7 BVerfGG werden die vom Bundesrat zu wählenden Richter
mit 2/3 der Stimmen des Bundesrates gewählt.
Das zeigt: das viel kritisierte polnische
Richterwahlverfahren ist viel „unpolitischer“ als das deutsche. In Irland, wo
eine Richterin einen Drogenhändler wegen der dortigen Defizite nicht nach Polen
auslieferte, ist es noch schlimmer: da bestimmt der Premier die Richter gleich
unmittelbar selbst. Im Falle Polens stören sich die Kritiker tatsächlich an den
derzeitigen Mehrheitsverhältnissen. Das auf der politischen Willensbildung des
polnischen Volkes beruhende Wahlergebnis wird beklagt, womit zugleich die
demokratische Legitimität bei absoluten Mehrheiten in Frage gestellt wird. Das wiederum
ist absurd, denn gerade bei uns wird die Zersplitterung der politischen
Parteienlandschaft und die daraus resultierende Schwäche bei der Regierungsfindung,
der man sogar durch eine Änderung des Wahlsystems zu begegnen sucht
(Mehrheitswahlrecht), zu Recht beklagt. Vor allem aber stellt es einen
flagranten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dar, wenn die EU
– Institutionen gegen Polen ein Beanstandungsverfahren einleiten, Italien aber,
das flagrant gegen alle Grundsätze des Stabilitätspakts verstößt, ungeschoren
davon kommen lässt. Das Säbelrasseln der jüngsten Zeit darf nicht darüber
hinwegtäuschen, dass der Kommission die Hände gebunden sind, denn das
Defizitverfahren nach Art. 126 AEUV
sieht derart hohe Hürden vor, dass Bußgelder extrem unwahrscheinlich sind. Und
wenn doch, zahlt Italien einfach nicht. Dann muss die Kommission den Gerichtsvollzieher
schicken…. .