Mit heißer Nadel gestrickt
Fromme-NL 09.04.2018
Jetzt, wo die große Koalition (Groko) im Amt ist, kommt auch
die Massenklage, könnte man meinen. Vielleicht. Aber nur, wenn die Europäische
Kommission nicht zwischendurch etwas besseres (sprich: noch
verbraucherfreundlicheres) erlässt. Die Randziffern 5810 bis 5833 des
Koalitionsvertrages legen jedenfalls die Umrisse einer geplanten
„Musterfeststellungsklage“ fest. Zum einen sollen nur „qualifizierte Einrichtungen“
aktiv werden dürfen (Vermeidung einer „ausufernden Klageindustrie“), zum
anderen sind für die Einleitung des Verfahrens zehn natürliche Personen
erforderlich, die eine „schlüssige Darlegung und Glaubhaftmachung“ (von was
auch immer: Sachverhalt? Anspruchsgrundlage? Verschulden? Kausalität? Schaden?)
liefern müssen. Das Verfahren selbst soll dann von 50 Anmelderinnen und
Anmeldern durchgeführt werden, die sich zu einem Klageregister in einer Frist
von zwei Monaten anmelden müssen (mit Opt-Out-Möglichkeit bis zum Beginn der
ersten mündlichen Verhandlung). Dadurch soll die „Effektivität des Verfahrens
für Gerichte und für Parteien“ gewährleistet werden, was zu der Vermutung
geführt hat, dass es sich bei den zehn Individuen um eine Mindest-, bei den
Anmelderinnen und Anmeldern aber um eine Höchstzahl handeln soll. Das aber
würde wenig Sinn machen, denn dann müssten es genau 50 sein (weniger erfüllt
die Voraussetzung nicht, mehr gefährdet die Verfahrenseffektivität).
Warum aber die Feststellungen des Urteils nur für „die im
Klageregister angemeldeten Betroffenen bindend“ sein sollen und nicht für alle
potenziell Betroffenen, ist schleierhaft. Und die Verfahrenseffektivität kann
mit der Anzahl der registrierten Gläubiger gar nicht korrelieren, denn es soll
ja jeweils nur eine legitimierte „qualifizierte Einrichtung“ aktiv werden. Das
Ganze schmeckt mehr nach Show (für die “Opfer“ als zu schützendes Klientel) als
nach Substanz.
Überhaupt, was soll das alles? Es steht zu vermuten – der
Koalitionsvertrag schweigt insoweit –, dass neben dem Unterlassungsklagengesetz
eine Art Aktivklagegesetz geschaffen werden soll, wobei die Klage aber nicht
auf Leistung, sondern nur auf Feststellung gerichtet sein soll. Dass diese
Feststellung in Form einer Musterklage ablaufen soll, ist schon ein Widerspruch
in sich: entweder Musterklage oder aber Feststellungsklage, denkbar etwa bei
Massenphänomenen wie einem explodierenden Kraftwerk oder Pharmaschäden, bei
denen die Zahl der möglicherweise Betroffenen hoch ist, die gleiche Ursache für
den Schadenseintritt verantwortlich ist und ein Schuldner verantwortlich sein
könnte. Solche Massenphänomene kennen wir natürlich auch im Versicherungsrecht,
man denke etwa nur an die Frage der Ratenzahlungszuschläge bei unterjähriger
Prämienzahlung, an die Frage von Stornoabzügen etwa bei Frühstornierern oder an
die Folgen des § 5 a VVG a.F. Bei letzterem geht es um die
Widerspruchsbelehrungen bei Verträgen nach dem Policenmodell, die heutzutage
oft angefochten werden.
Die Antwort auf die Frage, ob wir überhaupt so etwas wie
Sammelklagen, Verbandsklagen, Musterklagen oder eben Musterfeststellungsklagen
benötigen, muss negativ ausfallen. Darüber gibt es ja seit nunmehr Jahrzehnten
eine ausgiebige Diskussion unter Fachleuten und es gibt die Erhebungen des
European Justice Forums zum „Collective Redress“, wie das Instrument der
Massenklage auf europäischer Ebene auch bezeichnet wird.
Die Class Actions in den USA geben ein eher abschreckendes
Beispiel ab, schon weil sie mit einer hohen Betrugsquote einhergehen. Man
liest, dass rund 85 Prozent aller Asbestschäden vorgetäuscht sind, weil
entweder gar keine Erkrankung vorliegt oder diese nicht kausal auf die
behauptete Ursache zurückzuführen ist. Zudem ist das Verteilungsverfahren nach
gewonnenem Prozess mit erheblichen Unklarheiten und hohem administrativem
Aufwand verbunden. Die Beteiligung der „Opfer“-Anwälte am Ergebnis – sie
erhalten sogenannte Contingencies von bis zu 40 Prozent – setzt völlig falsche
Anreize.
In Europa herrscht eine bunte Vielfalt. Wir in Deutschland
kennen das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, die Finnen schicken bei
vergleichbaren Fällen einen Ombudsmann ins Rennen. Die Franzosen lassen
Feststellungsklagen durch Verbraucherschutzorganisationen bei Verletzung
kollektiver Verbraucherinteressen zu, kennen aber auch die
Sammel-Leistungsklage bei Verletzung individueller Verbraucherinteressen durch
Handlungen eines bestimmten Schädigers. Der Gerichtshof Amsterdam hat im
sogenannten Converium-Fall einen US-Vergleich in einer Class Action, zu der nur
US-Bürger zugelassen waren, auch für alle Nicht-US-Bürger anerkannt – was im
sogenannten WCAM-Verfahren dann automatisch in allen EU-Mitgliedsstaaten
vollstreckbar war sowie zusätzlich in Island, der Schweiz und Norwegen. Das
WCAM-Verfahren regelt im niederländischen Recht die kollektive Abwicklung von
Massenschäden.
Die EU-Kommission hatte in ihrer 2011 veröffentlichten
Konsultation „Towards a coherent European approach to Collective Redress“ noch
festgestellt: „There is no easy answer to the problem“. Alle bekannten Massenverfahren
hätten ihre Stärken und Schwächen, heißt es darin. Kein Mechanismus sei ideal
für alle Typen von Klagen. Diese Warnung scheint sich jetzt zu verflüchtigen,
ohne dass der Grund dafür auch nur ansatzweise zu erkennen ist. Es wäre kaum
nachzuvollziehen, wenn jetzt rasch ein Gesetz mit heißer Nadel gestrickt würde,
nur weil Verjährungen im sogenannten Dieselskandal drohen. So schwach ist
unsere Rechtsordnung nicht, als dass sich die Betroffenen nicht mit
herkömmlichen Mitteln zu helfen wüssten. Eher andersherum: Man schafft ein
Instrument, ohne dass der vernünftige, nicht rechtsschutzversicherte Bürger die
Gerichte nicht bemühen würde. Das ist Verbraucherschutz anno 2018: Selbst der
aussichtsloseste Anspruch soll noch irgendwie und irgendwo geltend gemacht
werden können.
Unabhängig von derartigen rechtspolitischen Einwänden ist
auch das geplante Verfahren rätselhaft. Zugegeben: man kann solche komplexen
Dinge nicht in wenigen Zeilen sinnvoll zusammenfassen, schon gar nicht in einem
Kompromisspapier wie dem Groko-Vertrag, aber dann sollte man es auch nicht
versuchen. Allein die Verbindung der Muster- mit der Feststellungsklage ist ein
Zeichen der Hilflosigkeit. Doppelt hält besser. Das Ziel der Vermeidung einer
„ausufernden Klageindustrie“ ist bloße Spiegelfechterei, denn die fraglichen
„qualifizierten Einrichtungen“ werden natürlich genau das tun: weil sie
ordentlich mitverdienen, werden sie natürlich die Klageindustrie kräftig
anheizen. Dabei ist ja fraglich, wer da überhaupt wen mandatieren soll (wenn man
nicht dem dankbaren „Opfer“-Anwalt Gelegenheit geben will, erst mal ganz ohne
konkrete Mandanten loszulegen). Oder soll das Windhundprinzip gelten, wer
zuerst im Klage- oder Anmelderegister steht, hat Glück gehabt? Auf die Widersprüche
in Bezug auf die zehn Individuen bei der Einleitung des Verfahrens und den 50
Anmelderinnen/Anmeldern bei der Durchführung des Verfahrens ist oben bereits
hingewiesen worden.
Vor allem aber: Die Feststellungen des Urteils sollen für
die Beteiligten bindend sein. Das greift zu kurz. Zum einen: Was ist mit den
Betroffenen, die es nicht ins Register schaffen? Und zum anderen: Was da mit
Bindungskraft ausgestattet werden soll, kann ja nur die erste Stufe zur
erfolgreichen Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen sein. Denn es muss ja
für jeden einzelnen Betroffenen der Schaden, die Kausalität des Ereignisses für
diesen Schaden, dessen Ausmaß und die Höhe des Schadenersatzes festgestellt
werden. Das lässt sich nur individuell entscheiden, etwa bei Verdienstausfall,
Bedürftigkeit oder in Bezug auf ein etwaiges Schmerzensgeld. Die abstrakte
Feststellung eines Gerichtes, dass ein bestimmtes Massenphänomen geeignet war,
einen Schaden zu verursachen, hilft nicht. Streng genommen braucht man dafür in
vielen Fällen nicht einmal ein Gericht. Jedenfalls ist diese Feststellung nur
die erste Stufe für die Durchsetzung eines erfolgreichen Schadenersatzanspruchs.
Die Individualität der Schadensbemessung ist durch Eintragungen in welche
Register auch immer nicht zu ersetzen. Und diese Feststellungen darf man in
keinem Fall – nach US-Muster – einem privaten Verteilungsverfahren überlassen.
Das würde rechtsstaatliche Erfordernisse nicht erfüllen.
Es hat also ganz den Anschein, dass wir es bei der
Musterfeststellungsklage mit einem weiteren Placebo zu tun hätten, mit dem die
Grokoisten ihre Klientel glauben machen wollen, das brächte uns der sozialen
Gerechtigkeit „ein Stück weit“ näher – wenn nicht die Europäische Kommission schneller ist.