Alles fließt – auch in der D&O-Versicherung


Fromme- NL, 30.10.2017

πάντα ῥεῖ: Alles fließt. Südafrikanische Aktivisten wollen die Statue von Cecil Rhodes vom Oriel College in Oxford entfernt wissen, er sei ein Kolonialist, Imperialist und Rassist gewesen und deswegen müsse er – wortwörtlich – vom Sockel gestoßen werden. Auch die Unruhen von Charlottesville hatten einen vergleichbaren Hintergrund (dort sollte die Statue von Robert E. Lee entfernt werden, einem Konföderierten-General). Der Central Park in Manhattan wird demnächst von seiner Columbus-Statue befreit (gerade erst haben Aktivisten seine Hände rot angemalt, eine echt hintergründige Anspielung, Blut an den Händen, sehr geistreich). Der Aborigines-Aktivist Stan Grant mag die Statue von Captain Cook im Hyde Park von Sydney nicht mehr. Cook habe bei seiner Landung in Botany Bay im Jahre 1770 keineswegs Australien „entdeckt“, die Aborigines seien nämlich schon vor ihm dort gewesen.

Selbst die Kanadier haben ein Problem: der Französischlehrer Felipe Pareja drängt darauf, Staatsgründer Sir John A. Macdonald aus der kollektiven Erinnerung auszulöschen, weil er die Ureinwohner mit seinem „Indian Act“ schlecht behandelt habe. Nach ihm benannte Schulen, Straßen und Plätze sollen umgewidmet werden und sein Bild soll von Briefmarken und Geldscheinen verschwinden. Nur gut, dass noch niemand die Straßenkreuzung in Bristol entdeckt hat, wo die „White Ladies Road“ auf den „Black Boys Hill“ trifft.

Nichts soll bleiben, wie es ist; das gilt auch für die D&O-Versicherung. Wenn gegenwärtig nach einhelliger Auffassung der Versicherungsnehmer erst nach einer Deckungsablehnung die Erfüllung von Obliegenheiten sanktionslos verweigern darf, wurde auf der Veranstaltung „Brennpunkt D&O-Versicherung“ der Universität Hamburg im Oktober die Frage diskutiert, ob Auskunfts- und Informationspflichten der Versicherungsnehmerin ruhen sollen, sobald Abwehrdeckung gewährt wurde. Das erscheint paradox: Wieso soll ausgerechnet eine Leistungszusage die Erfüllung von Obliegenheiten verhindern? Hintergrund ist die Überlegung, dass es nach Abwehrdeckung durch den D&O-Versicherer zu einer Informationsasymmetrie zu seinen Gunsten kommen könnte. Die Versicherungsnehmerin schuldet umfassende Auskunft über den behaupteten Schadenersatzanspruch. Die versicherte Person hat die gleichen Pflichten und zusätzlich muss sie den Versicherer bei der eventuellen Abwehr unbegründeter Haftpflichtansprüche unterstützen. Demgegenüber träfen den Versicherer so gut wie keine Auskunftspflichten. Nach Ansicht von Kritikern entsteht daraus eine einseitige Verstopfung der Kommunikationsröhren: Beim Versicherer bündeln sich alle Informationen der Beteiligten und ihm würde dadurch die Haftungsabwehr zu sehr erleichtert. Und weil das ungerecht sei, wird eben die Auffassung vertreten, nach der Gewährung von Abwehrdeckung seien dem Versicherer sämtliche Informationsrechte gegenüber dem Versicherungsnehmer zu versagen.

Angesichts dieser drastischen Abkehr von bislang gültigen Normen und Grundsätzen stellt sich zunächst die Frage, ob die behauptete Informationsasymmetrie überhaupt besteht. Zum einen: Das Obliegenheitenrecht dürfte nicht so weit gehen, dass die Versicherungsnehmerin für sie nachteilige Informationen liefern muss, die für die Deckungsentscheidung des Versicherers gar keine Rolle spielen – wie eine pessimistische interne Einschätzung der Erfolgsaussichten. Zum anderen: Die Versicherungsnehmerin von der Pflicht zur Preisgabe wahrheitsgemäßer, aber haftungsschädlicher Informationen zu befreien, läuft in letzter Konsequenz entgegen Paragraf 139 Zivilprozessordnung auf ein Recht zu wahrheitswidriger Prozessführung hinaus. Das kann ernsthaft niemand fordern: Wer über einen berechtigten Anspruch verfügt, hat prozessuale Tricks nicht nötig.

Im Übrigen wird die Informationsentpflichtung nach Abwehrdeckung schnell zu einem stumpfen Schwert, denn es liegt nahe, dass der Versicherer dann alle relevanten Informationen eben vor einer solchen Deckungszusage einholen wird. Ungeachtet der damit verbundenen – allein von der Versicherungsnehmerin zu vertretenden – Verzögerung wird der klug beratene Versicherungsnehmer nicht darauf vertrauen wollen, dass er Informationen zurückhalten darf, bevor es durch die Gewährung von Abwehrdeckung zu einer „obliegenheitsfreien“ Situation kommt. Er müsste nämlich befürchten, dass ein solches Verhalten schon für sich genommen die Leistungsfreiheit des Versicherers bewirkt. Das wäre dann eher kontraproduktiv: keine Informationspflichten, aber auch keine Deckung.

Ein weiteres brisantes Problem wurde ebenfalls im Oktober an der Universität Salzburg diskutiert: Der Bundesgerichtshof (BGH) hat entgegen der bisherigen Instanz-Rechtsprechung entschieden, dass die Deckungspflicht des Vermögensschadens-Haftpflichtversicherers gänzlich entfällt, wenn eine von mehreren Pflichtverletzungen wissentlich begangen wurde (BGH VersR 2015,1156). Bis dahin galt, dass eine uneingeschränkte Deckungspflicht bestand, wenn auch nur eine von mehreren schadensursächlichen Pflichtverletzungen fahrlässig begangen wurde. Beide Ansätze haben natürlich etwas für sich: Für die bisherige Rechtsprechung spricht, dass ein Deckungsausschluss alle vorhandenen Verursachungsbeiträge erfassen muss. Das ist eben nicht der Fall, wenn von mehreren Pflichtverletzungen auch nur eine (nur) fahrlässig begangen wurde. Für die Auffassung des Bundesgerichtshofes spricht das – überzeugendere – Argument, dass ein wissentlicher Pflichtenverstoß eben zum Deckungsausschluss führt und dass es nicht zu einer Privilegierung des Schuldners kommen darf, wenn dieser neben der wissentlichen Pflichtverletzung noch weitere, fahrlässige Verletzungen begangen hat. Der BGH hat hier deutliche Worte gefunden. Eine Kumulation von Pflichtverletzungen spräche für eine umso größere Sorgfaltslosigkeit und der durchschnittliche Versicherungsnehmer würde dem Ausschluss keineswegs entnehmen, dass er im Falle der größeren Sorglosigkeit eher Versicherungsschutz genieße als wenn er „nur“ eine wissentliche Pflichtverletzung begangen hätte.

So weit, so vernünftig. Unklar bleibt, wie sich diese Rechtsprechung auf die D&O-Versicherung auswirkt. Es versteht sich, dass die Rechtsprechung des BGH prinzipiell auch hier Anwendung finden muss. Aber wie? Kann es richtig sein, allen den Versicherungsschutz zu versagen, wenn nur eine(r) wissentlich gegen Pflichten verstoßen hat? Jede einzelne versicherte Person hat einen sozusagen personalisierten Individualanspruch gegen den D&O-Versicherer. Das findet sich auch in allen herkömmlichen Bedingungswerken unter dem Stichwort der „Severability“ wieder. Also voller Versicherungsschutz für die, die nicht vorsätzlich/wissentlich gehandelt haben.

Das dürfte sicher zutreffen in Bezug auf die sogenannte Abwehrdeckung. Aber neben die Abwehrdeckung hat der Gesetzgeber in § 100 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) auch die Freistellung gestellt. Aber eben nur soweit, als der Versicherer nicht nach den einschlägigen Allgemeinen Vertragsbedingungen oder durch § 103 VVG von der Leistungspflicht befreit wird. Und hier stellt sich das eigentliche Problem: Es wäre ein unbefriedigendes Ergebnis, den versicherten Personen, die nicht wissentlich gewirkt haben, zunächst Abwehrdeckung zu gewähren, um sie dann – im Falle einer Verurteilung – nicht von den Ersatzansprüchen freizustellen. Sie würden dann doch mit dem eigenen Vermögen haften. Andererseits entspricht es eben nicht dem Geist der oben referierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, die Versicherungsnehmerin bei Innenhaftungsansprüchen trotz einer wissentlichen Pflichtverletzung von einem uneingeschränkten Deckungsschutz profitieren zu lassen.

Was also tun? Die Lösung liegt in der sinngemäßen Anwendung der Grundsätze des gestörten Gesamtschuldner-Ausgleichs. Darunter versteht man die Fälle, in denen einer von mehreren Schuldnern aufgrund eines vom Gläubiger eingeräumten Haftungsprivilegs nicht haftet. Dessen Enthaftung führt nicht etwa zu einem größeren Tilgungsanteil der verbleibenden Schuldner, sondern der Anteil, der auf den haftungsprivilegierten Schuldner entfällt, wird dem Gläubiger schon im Haftungsprozess zugerechnet. Dadurch vermindert sich sein Anspruch gegen die nicht privilegierten Schuldner um den Anteil des freigestellten Schuldners. Anhand dieser Grundsätze gelangt man auch in der D&O-Versicherung zu dogmatisch richtigen Lösungen, die den Vorzug haben, auch wirtschaftlich Sinn zu machen.

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