Massenklage: Noch mehr Unheil


Fromme-NL, 07.05.2018

Jetzt ist es also doch passiert. Die Absicht der Bundesregierung, eine Massenklage zu institutionalisieren ist schon von einem deutlich weitergehenden Vorschlag der EU-Kommission überholt worden. Als Teil eines „New Deals for Consumers“ hat diese am 11. April 2018 einen Entwurf für eine „Directive on Representative Actions“ vorgeschlagen. Das „European Justice Forum“ (EJF), das diese Entwicklung über Jahre hinweg intensiv begleitet hat, sieht in dem Entwurf trotz des großspurigen Namens – der ja nicht von ungefähr an Franklin Roosevelts „New Deal“ als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise erinnern soll – „gleich mehrere Schritte rückwärts“. Die Kommission sei von ihren eigenen ausgewogenen Empfehlungen in dem Weißbuch zum „Collective Redress“ 2013 abgewichen und habe stattdessen „ID Plus“ gewählt, also eine aufgemotzte Variante der bereits bestehenden „Injunctions Directive“. Damit sei die Chance zu einem modernen und innovativen Ansatz verpasst worden. Wichtige Eckpunkte wie die Koordinierung unterschiedlicher Mechanismen der alternativen Streitbeilegung, wie die Schaffung unabhängiger und qualifizierter Einrichtungen und Vorkehrungen gegen Missbrauch seien nur schwach gestaltet oder würden ganz fehlen („weakly designed or missing“).

Diese Kritik ist fundamental, aber noch lange nicht erschöpfend. Allein der Formalismus: Der Vorschlag COM(22018)184/3 ist insgesamt 51 Seiten lang, von denen die ersten 17 Seiten zunächst einmal die (sattsam bekannten) Erwägungsgründe zusammenfassen und die nachfolgenden Artikel erläutern. Es bedarf schon der unendlichen Geduld und des stählernen Willens eines Marcel Proust-Fans, um das alles aufmerksam zu studieren. Wenn schon am Anfang nichts Bedeutendes gesagt wird, kommt danach auch nicht mehr viel.

So auch hier: Nach dem nichtssagenden Auftakt folgt der eigentliche Entwurf, der allerdings auf den ersten acht Seiten in 47 Randnummern wieder nur Erläuterungen des Vorstehenden oder Gründe für das Nachfolgende liefert. Der eigentliche Text der Richtlinie beginnt erst auf Seite 26, er umfasst 22 Artikel und endet schon wieder auf Seite 34. Danach folgen nur noch Anhänge und Ausführungsbestimmungen, etwa zur Statistik oder zu Verwaltungsmaßnahmen. Viel heiße Luft.

Wendet man sich schließlich dem eigentlichen Richtlinienentwurf zu, droht hier noch mehr Unheil als bei dem nationalen Alleingang der Bundesregierung. Es wimmelt nur so von unbestimmten Rechtsbegriffen, von denen zu befürchten ist, dass sie bewusst so vage formuliert wurden. In Artikel 1 Nr. 1 ist von „qualified entities“ die Rede, die dann in Art. 4 definiert werden. Diese „Definition“ besagt aber nichts weiter, als dass die Einrichtung dem nationalen Recht und dem Unionsrecht entsprechen muss und dass sie nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein darf (non-profitmaking character). Das soll für die Qualifizierung reichen?

In Art. 1 Nr. 1 heißt es weiter, dass es um Schutz von kollektiven Verbraucherinteressen gehen soll. Diese Interessen werden in Art. 3 Abs. 3 definiert: es soll um die „Interessen einer Vielzahl von Verbrauchern“ gehen („interests of a number of consumers“). Das ist keine Definition, sondern redundant. Mit 26 Seiten Anlauf. In Art. 1 Nr. 1 heißt es abschließend, dass das ganze Unterfangen zugleich angemessene Regelungen enthalten muss, um Missbrauch Vorschub zu leisten („to avoid abusive litigation“). Wie das aber im Einzelnen und konkret erreicht werden soll, darüber schweigt die Richtlinie.

Ist das alles noch erratisch bis nichtssagend – abgesehen davon, dass man überhaupt ohne rechtliche, ökonomische oder ordnungspolitische Notwendigkeit Pandoras Büchse für die Bewältigung von Massenphänomen öffnet – enthält der Entwurf ein paar inakzeptable Regelungen, die nicht einem sinnvollen und angemessenen Schutz der Verbraucher dienen, sondern reine Klientelpolitik sind. Vielleicht ist das ja mit „New Deal“ gemeint, auch wenn solche Heilsversprechen ja eigentlich alte Hüte sind. Art. 6 sieht kollektive Schadenersatzklagen vor, also repräsentative Aktivprozesse, die deutlich weiter gehen als unser bisheriges Unterlassungsklagengesetz (UKlaG).

Dabei gilt für den europäischen Entwurf die gleiche Diagnose wie beim deutschen: Individuelle Schadenersatzansprüche und Kausalitätsfragen können in Massenverfahren nicht entschieden werden. Mit entwaffnender Folgerichtigkeit schließt der Richtlinienentwurf in Art. 6 Nr. 3 (a) also ausdrücklich solche Fälle aus, in denen Betroffene einen bezifferbaren Anspruch aufgrund des fraglichen Ereignisses geltend machen können. Also dort, wo begründete und bezifferbare Ansprüche bestehen, soll das Instrument der Massenklage nicht greifen. Umgekehrt kann das ja nur bedeuten, dass es dort helfen soll, wo solche Ansprüche eben nicht existieren. Das ist das Gegenteil von dem, was man unter prozessualer Rechtsstaatlichkeit versteht. Konsequenterweise sieht die Regelung über Vergleiche in Art. 8 dann auch keine individuelle Schadenskompensation vor, sondern – Konkretisierung Fehlanzeige – es scheint so zu sein, dass mit einer Vergleichssumme, die die Zustimmung des Gerichts findet, alle Klassenmitglieder in gleicher Höhe und gleicher Weise entschädigt werden sollen. Aus diesem Grunde sieht Art. 8 Abs. 6 auch ausdrücklich vor, dass individuelle Verbraucher sich der Vergleichsregelung anschließen oder sich dieser verweigern können. Also: die Klassenmitglieder, die keinen bezifferbaren und/oder kausalen Schaden erlitten haben, werden den Vergleich und den nachweislos auf sie entfallenden Pauschalbetrag akzeptieren, andere, die einen echten Schaden geltend machen können, werden weiter klagen.

Soweit noch vorstellbar, ist die Regelung in Art. 13 noch unangemessener. Hier ist die Beweisführung geregelt. Sobald die „qualifizierte Einrichtung“ Tatsachen vorgetragen hat, die für sie vernünftigerweise erreichbar sind („reasonably available facts“), und sobald hinreichende Anzeichen für die Schlüssigkeit der Massenklage vorliegen („evidence sufficient to support the representative action“) und weitere Beweismittel kenntlich gemacht werden („indicated further evidence“), die aber im Kontrollbereich des Beklagten liegen, kann das Gericht anordnen, dass diese Beweise vom Beklagten vorgelegt werden müssen. Das ist natürlich – aber das ist ja eben genau so gewollt – höchst einseitig, weil in der ersten Stufe der „Beweisführung“ nur die sehr flache Hürde der vernünftigerweise zu erlangenden Tatsachen (die ja bei Massenphänomen ohnehin in der Zeitung stehen) übersprungen werden muss, um den Beklagten zu einem beweisrechtlichen Offenbarungseid zu zwingen. Es ist nur ein schwacher Trost, dass auf das Erfordernis des nationalen Prozessrechts abgestellt wird (die bestehenden Regeln in den §§ 421 ff. ZPO wird man schnell anpassen können, erwartungsgemäß unter Hinweis auf die angeblich zwingenden Vorgaben des europäischen Rechts als primärer Rechtsquelle). Und wenn die „nationalen Regeln der Vertraulichkeit“ beachtet werden müssen, ist damit auch der Datenschutz und der Schutz der Geschäftsgeheimnisse des Beklagten gemeint? Wo sind die Grenzen der Ausforschung? Das alles ist völlig ungeklärt.

Unserer Rechtsordnung ähnlich fremd ist die Regelung in Art. 15, wonach dafür gesorgt werden muss, dass die anfallenden Prozesskosten kein finanzielles Hindernis für die Einreichung der Massenklage darstellen dürfen. Wir haben es also mit einem Prozessphänomen zu tun, das aussichtslose Klagen fördert (die begründeten und bezifferbaren Ansprüche werden ausgeklammert), diesen eine Art Beweislastumkehr zubilligt und das Ganze auch noch staatlich finanziert! Alles in allem: Das einzig Gute an dem Richtlinien-Entwurf ist, dass er an einer Vielzahl von Stellen auf den nationalen Gesetzgeber verweist und diesem erst noch zu erfüllende Aufgaben stellt, bevor es dann tatsächlich zur Institutionalisierung eines „Collective Redress“ in Europa kommt. Möge es noch lange dauern.

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