Hello everyone!
Fromme-NL, 02.10.2017
Flüchtlingskrise, Finanzkrise, Europakrise, Brexitkrise,
Erdogankrise, Syrienkrise, Trumpkrise, Ukrainekrise, Russlandkrise, Krisen,
Krisen, Krisen. Und dann noch Dieselgate, Venezuela und Kim Jong-un. Man sollte
meinen, unsere Schicksalslenker hätten genug auf der Agenda. Weit gefehlt.
Immerhin hatten der Bürgermeister von London Sadiq Khan und Mark Evers vom
Executive Committee von Transport for London die blendende und die
partizipativen Anforderungen der modernen Gesellschaft fördernde Idee, das seit
etwa Mitte des 16. Jahrhunderts übliche „Ladies and Gentlemen“ abzuschaffen und
durch ein genderneutrales „Hello everyone“ zu ersetzen. Alle der circa 1,3
Milliarden Reisenden jährlich sollen sich wohlfühlen im täglichen
Transportgedränge. Da wollte Roger van Boxtel von der holländischen Eisenbahn
nicht abseits stehen und hat ein „Beste Reizigers“ eingeführt, immerhin mit der
etwas schamhaften Begründung, das herkömmliche „Dames en Heren“ käme etwas
altbacken daher und ein „Herzliches Willkommen an alle mit einem gültigen Fahrschein“
sei zu lang gewesen.
Naja, wenn die Züge dann pünktlich fahren… Schwamm drüber,
beachtlicher ist da schon die Regelung in Kapitel IX, Abschnitt 5
„Vergütungspolitik“ der Solvency II-Verordnung
2015/35/EG (Delegierte Verordnung, DVO), mit der die Ordnungspolitiker
der EU-Kommission massiv in die Binnengestaltung der Unternehmen eingegriffen
haben, nämlich in deren Vergütungspolitik. Die hiesige Versicherungswirtschaft
ist gut beraten, sich vertieft mit der Umsetzung dieser bereits seit dem 1.
Januar 2016 gültigen Normen zu befassen (das in der Verordnung genannte Datum
ist zwar der 18. Januar 2015, aber sie kann ja schlecht vor der Richtlinie in
Kraft treten, die sie ausfüllen soll, und das ist eben der 1. Januar 2016),
denn die BaFin hat angekündigt, ihre Auslegungsentscheidung vom 20. Dezember
2016 in Kürze in überarbeiteter Form vorzulegen. Außerdem ist eine
modernisierte Fassung der Verordnung über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen
an Vergütungssysteme im Versicherungsbereich (VersVergVO) vom 18. April 2016 in
Arbeit.
Das sprachlich nur schwer zu durchdringende Regelungswerk
bestimmt nicht nur, dass die Vergütungspolitik schriftlich fixiert werden muss
(Art. 275 Abs. 1 i.V.m. Art. 258 Abs. 1 lit. l DVO), sondern legt darüber
hinaus besondere, also eigens dafür bestimmte, Regelungen für den Vorstand, den
Aufsichtsrat und alle anderen Personen, „die das Unternehmen tatsächlich
leiten“, fest. Um wen es sich bei diesen etwas kryptisch beschriebenen grauen
Eminenzen außerhalb der Unternehmensorgane handeln soll, bestimmt die
Verordnung nicht, wohl aber die zugrunde liegende Richtlinie. Es handelt sich
um „Schlüsselfunktionsträger“ und „Risk Taker“, über deren Existenz und
Definition das Unternehmen in einem „Self Assessment“ zu entscheiden hat.
Vorsorglich gibt Art. 275 Abs. 1 lit. c DVO eine kleine Entscheidungshilfe:
Betroffen ist, wer das Risikoprofil des Unternehmens maßgeblich beeinflusst.
Offen bleibt, ob das nun nur für die Risk Taker gilt (etwa den Leiter
Kapitalanlagen) oder auch für die Schlüsselfunktionsträger. Das alles ist
natürlich äußerst hilfreich.
Variable Vergütung muss Anforderungen der
Dreidimensionalität genügen
Die variable Vergütung des genannten Personenkreises muss
sodann den Anforderungen der sogenannten Dreidimensionalität genügen (Art. 275
Abs. 2 lit. b DVO). Entgegenkommenderweise gilt das nur, wenn und soweit eine
variable Vergütung überhaupt vereinbart ist. Aber auch Fixvergütungen müssen
dem Proportionalitätsprinzip entsprechen, um falsche Anreize zu vermeiden. Der
Gesamtbetrag der leistungsbezogenen variablen Vergütung muss auf einer
Kombination aus der Bewertung des betroffenen Managers (inklusive
Schlüsselfunktionsträger und Risk Taker), des betreffenden Geschäftsbereichs
und dem Gesamtergebnis des Unternehmens beziehungsweise der Unternehmensgruppe
basieren. Diese drei Kriterien dürfen in Bezug auf ihren jeweiligen Einfluss
frei gewichtet werden, solange die erforderliche Nachhaltigkeit gewährleistet
ist.
Während sich für das „Gesamtergebnis des Unternehmens“ noch
einigermaßen objektive Kriterien wie den Zuwachs an Bruttobeiträgen, den
Gesamtkostensatz und das versicherungstechnische Ergebnis finden lassen, ist
das für das Segment der „Leistung des Einzelnen“ sehr viel schwieriger zu
definieren. Es stellt sich die Frage, ob für jedes Vorstandsmitglied
individuelle Ziele definiert werden müssen, oder ob es nicht – was nahe liegt –
zulässig ist, für Gruppen von Vorstandsmitgliedern jeweils teilweise dieselben
individuellen Ziele zu definieren, jedenfalls dann, wenn es um
ressortübergreifende Geschäftsfelder geht. Hier müssen nicht nur finanzielle,
sondern auch nicht-finanzielle Kriterien berücksichtigt werden – was immer
darunter zu verstehen sein mag (Art. 275 Abs. 2 lit. d DVO)). Noch schwieriger
dürfte die Definition der Ziele für die jeweiligen Geschäftsbereiche ausfallen.
Das alles wird durch Art. 275 Abs. 2 lit. e DVO mit einer
zwangsweise vorzusehenden Abwärtskorrektur (für die es allerdings eine
Bagatellgrenze gibt, die aber gegenwärtig noch bei der BaFin in Überarbeitung
ist) kombiniert, bei der den bei der Festlegung berücksichtigten Erwartungen
aktuelle und künftige Risiken gegenübergestellt werden müssen. Während die
Ziele zwangsweise nur ex ante zu beurteilen sind, ist der Abwärtskorrektur eine
ex post-Betrachtung zugrunde zu legen. Das bedeutet, dass ein an sich bereits
ausgelöster Bonus nachträglich ins Minus korrigiert werden kann. Dass diese
„Claw-back“-Klausel für börsennotierte Aktiengesellschaften nicht unüblich ist,
macht die Sache nicht wirklich besser. Gleiches gilt im Übrigen für die
alternativ in Erwägung zu ziehende Verzögerung der Bonusauszahlung, weil sie
nicht nur eine zeitliche Streckung darstellt, sondern selbstverständlich auch
die laufende Überprüfung durch die oben näher dargelegten Kriterien. Angesichts
der immer noch von Niedrigzinsen geprägten Kapitalmarktsituation eher
vernachlässigbar ist in diesem Zusammenhang die (offene) Frage, ob der zeitlich
verzögert ausgezahlte Bonus in der Zwischenzeit zu verzinsen ist und nach
welchen Maßstäben.
Wegen des allgemein geltenden Transparenzgebotes sind diese
Regelungen gegenüber den Mitarbeitern offenzulegen (Art. 275 Abs. 1 lit. g DVO)
und müssen im Solvabilitäts- und Finanzbericht publiziert werden (Art. 294 Abs.
1 lit. c DVO). Offen ist, wie weit genau diese Transparenzpflicht geht. Vom
Wortlaut her ist alles zu offenbaren; vielen Kritikern geht das entschieden zu
weit. Zuwiderhandlungen machen schadenersatzpflichtig, wenn und soweit ein
Schaden nachweisbar ist. (Paragraf 189 Abs. 3 S.1 Versicherungsaufsichtsgesetz
(VAG) i.V.m. Paragraf 116 S. 3 Aktiengesetz.)
Da nagt leise der Gedanke, ob der Brexit nicht doch Vorteile
hat. Diese Eingriffe jedenfalls müssen die Engländer nicht mehr mitmachen, auch
wenn gerade sie Treiber entsprechender Maßnahmen waren und sind. Aber in
Zukunft ist das alles eben nicht mehr von Brüssel fremdbestimmt, sondern
„homemade“ und das war ja Ziel des Sieges der Brexiteers über die „Remoaners“
(wie sie heute spöttisch genannt werden). Wegen solcher zaghaften Zweifel sind
die verantwortlichen Brüsseler Paladine Michel Barnier und Guy Verhofstadt ja
auch angewiesen, aus den Brexit-Verhandlungen eine Vollkatastrophe zu machen
(so jedenfalls Europaparlamentsmitglied Hans-Olaf Henkel in der „Times“ vom 12.
Juli 2017). Niemand verlässt das Reich von König Jean-Claude, dem Kussfreudigen
– jedenfalls nicht ungestraft. Aber: Trotz aller Unkenrufe ist die
Beschäftigung in Großbritannien nicht gesunken, sondern befindet sich auf einem
Höchststand seit Beginn ihrer statistischen Erfassung 1971. Die
Auslandsinvestitionen sind von 33 Mrd. Pfund (35,7 Mrd. Euro) im Jahre 2015 auf
197 Mrd. Pfund im Jahre 2016 gestiegen. Ob das so bleibt? Sicher ja, wenn die
Bemühungen von London Transport Erfolg haben: Hello everyone!